Die „Lüdenscheider Gespräche“ der Fernuni Hagen im Kulturhaus sind eine Institution, die es oft in sich hat. Sehr voll war der „rote Saal“ diesmal, als es um Braunes ging. Der Lüdenscheider Historiker Dr. Dietmar Simon referierte zur Person Dr. Wilhelm Ehmer. Sollte man besser „zum Fall Ehmer“ sagen? Ehmer war Chefredakteur und Verleger des Lüdenscheider General Anzeiger / Lüdenscheider Nachrichten – vor, während und nach dem Dritten Reich. Dr. Simons Thema lautete mithin "Die drei Leben des Wilhelm Ehmer. Ein Journalist zwischen den Zeiten".
Der Studiendirektor am Bergstadt-Gymnasium Lüdenscheid, stellvertretender Vorsitzender des Geschichts- und Heimatvereins, referierte gut 90 Minuten über das Leben des Dr. Wilhelm Ehmer (1896–1976). Seine Geschichte beginnt in Hamburg als Sohn einer Kaufmannsfamilie, die geschäftlich in die britische Kronkolonie Hongkong geht. Dort sei der junge Ehmer fremd gewesen, habe sich auf seine nationale Herkunft zurückgeworfen gefühlt, sei dem Kaiserreich und der Seefahrt, dem Meer, verbunden gewesen. Als die Familie zurückzog, ging es wieder nach Hamburg.

Ehmer meldete sich als 18-Jähriger sofort bei Ausbruch des 1. Weltkriegs als Freiwilliger, kam an die Westfront, wurde 1915 im Unterstand verschüttet. Bereits 1908 war er der Deutschen Wandervogelbewegung beigetreten, nahm 1913 am ersten Freideutschen Jugendtag auf dem Hohen Meißner teil, wo die Jugendbewegung die Meißnerformel zum Schwur erhob: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. […]“ Man mag die Meißnerformel als Chiffre für Wilhelm Ehmers erstes Leben annehmen.
Nach der Teilnahme am 1. Weltkrieg wurde Wilhelm Ehmer Volontär beim Hamburger Fremdenblatt, wechselte zur Vossischen Zeitung und zum Hannover’schen Kurier, für den er unter anderem Reichspräsident von Hindenburg interviewte. 1925 erreichte ihn ein Brief von Lüdenscheider Verwandten, in dem ihm ein Stellenangebot des Lüdenscheider General-Anzeiger unterbreitet wurde. Bereits im Frühjahr 1926 war er deren Chefredakteur – Beginn seiner Lüdenscheider Karriere.

Dr. Simon: „Ehmer war in der Weimarer Republik zunächst Vernunftrepublikaner.“ In seiner Eigenschaft als Chefredakteur des General-Anzeiger wird er von den aufkommenden Nationalsozialisten verfehmt, verächtlich gemacht, übelst beschimpft, aber von den Besitzern der Zeitung geschützt.
Das ändert sich auch nach der Machtergreifung nicht. Der Schutz dauert an, aber Ehmer arrangiert sich, heult mit den Wölfen, wird so sehr zum Opportunisten, dass er unter den Nazis nach dem Schriftleitergesetz zum „Schriftleiter im NS-Staat“ wird. So geht die Karriere steil weiter; 1936 wird Wilhelm Ehmer Besitzer des Lüdenscheider General-Anzeiger. Ehmer-Buchprojekte werden gezielt beworben; 1936 wird ihm anlässlich eines Literaturwettbewerbs im Rahmen der Olympischen Sommerspiele in Berlin eine Silbermedaille zugesprochen. 1937 wird er dafür von Adolf Hitler geehrt.

In seiner Autobiografie, an der er zeitlebens arbeitet, wird Ehmer später schreiben, dass er mit der NS-Ideologie und den Größen der Bewegung gehadert habe, dass er Parteigänger wider Willen gewesen sei. Dr. Simon: „Das Bild einer zwiespältigen Persönlichkeit.“
Doch der vermeintlich Hadernde macht weiter Karriere: Nach 1939 ist er Presseoffizier im Westfeldzug, richtet im besetzten Norwegen in Oslo eine Soldatenzeitung ein, wird zurück ins Oberkommando der Wehrmacht nach Berlin berufen und schreibt verstiegene Texte über Bombenkrieg und glühenden Hass auf die Briten. Bei einem Bombenangriff verliert er im Dezember 1943 den rechten Arm (Simon: „Seine Schreibhand!“); am 1. August 1944 fällt sein 18jähriger musikbegeisterter Sohn in Russland. Ehmer ist wieder zurück in Lüdenscheid und veröffentlicht im General-Anzeiger flammende Durchhalteartikel. In seinem zweiten Leben dient er dem Führerstaat treu ergeben.
Das hindert die amerikanische Besatzungsmacht aber nicht daran, Dr. Ehmer zum Bürgermeister zu bestallen – was er aber nur für wenige Stunden war. Seine NS-Vergangenheit war zu offensichtlich. Aufschlussreich wird in den folgenden Jahren der Entnazifizierungsprozess Ehmers. Der erste Spruch vom Januar 1947 lautet auf „politisch nicht tragbar“. Ehmer geht dagegen vor. Im Januar 1948 wird der Spruch in „minderbelastet“ abgeändert. Ehmer geht dagegen vor; sogenannte „Persilscheine“ werden vorgelegt. Im September 1948 lautet der Spruch „entlastet“.

Und damit beginnt Dr. Wilhelm Ehmers drittes Leben. Nach der Gründung der Bundesrepublik Deutschland mit einer neuen Staatlichkeit ist der Weg frei für den Neustart der Heimatpresse. Unter dem neuen Namen „Lüdenscheider Nachrichten“ erscheint der Lüdenscheider General-Anzeiger unter der Regie des Dr. Wilhelm Ehmer wieder. „Zeitungen unter neuem Namen – das gab es häufig“, urteilte Referent Dr. Simon und erinnerte an die Publizisten Lothar-Günther Buchheim („Das Boot“), Henri Nannen („Stern“), Herbert Reinecker („Derrick“), Werner Höfer („Internationaler Frühschopppen“). NS-Propagandisten tauchten ein in die Nachkriegsgesellschaft „und niemand wollte davon Notiz nehmen“.
Dr. Wilhelm Ehmer sah sich in seinem dritten Leben eingebettet in die Lüdenscheider und die westdeutsche Nachkriegsgesellschaft. Rotarier, Ortsvorsitzender des Kuratoriums Unteilbares Deutschland, engagiert in Verlegerverbänden und der Standortpresse zählte er bis zu seinem Tod zum Establishment und zu den Männern, die in Lüdenscheid den Ton angaben.
Fotogalerie
Was soll man nach dem Einblick in diese drei Leben sagen? Der 89-jährige Konrad Lorenzen, der frühere Geschäftsführer der MVG, erinnerte sich an ein Interview, das Ehmer mit ihm 1967 für die Lüdenscheider Nachrichten führte. Lorenzen urteilte so: Ehmer sei ein Chamäleon gewesen. „Was machten diese Menschen nach 1945 aus ihrem verkorksten Leben?“ Sie hätten ihre Vergangenheit beschwiegen, das sei die Methode des Weiterlebens gewesen.
Ein anderer Wortbeitrag fiel drastischer aus: Ehmer – „ein Schwein, das 1945 von der Lüdenscheider Gesellschaft aufgenommen wurde.“ - Dr. Dietmar Simon nannte daraufhin ein halbes Dutzend ehemaliger NS-Funktionäre und Würdenträger, die im Stadtgebiet Lüdenscheid jahrzehntelang unbehelligt weitergelebt hätten.
Fotogalerie
Am Ende der Veranstaltung gab es eine versöhnliche Szene. Von den fünf Ehmer-Kindern (zwei kriegsgefallene Söhne, drei Töchter) lebt noch Britta Hueck-Ehmer; ihr Sohn Rolf Ulrich Hueck hatte dem Vortrag beigewohnt, bedankte sich bei Dr. Dietmar Simon für die ausgewogene Darstellung seines Großvaters und überreichte einen Karton aus dem Ehmer-Nachlass. Enthalten sind ungesichtete Foto-Negative in Form von Glasplatten und Kleinbildfilmen aus den 20er- bis 50er Jahren. Die Geschichtsschreibung dürfte damit eine wirkliche Bereicherung erfahren.