Kommentar.

Diese Kommunalwahl war besonders. Sie war emotionaler. Warum das so war? Der Wahlkampf war anders. Die Kandidaten waren nahbarer. Es war eine lange Zeit des Werbens um Wählerstimmen. In dieser Zeit hat man sich kennengelernt. Ein fairer Wahlkampf hat ein klares Ergebnis gebracht. Mit einer Siegerin und zwei Verlierern. Es flossen Tränen - auf allen Seiten. Und doch hat Nachrodt-Wiblingwerde etwas geschafft, das so außergewöhnlich wie großartig ist: Am Ende des Tages haben alle Parteien gemeinsam den Ausgang der Wahl gefeiert. Ein Wir-Moment, der Lust auf die kommenden fünf Jahre macht. Redakteurin Lydia Machelett berichtet von diesen Geschehnissen abseits der sachlichen Politik und der knallharten Ergebnisse.

"Wir für Nachrodt-Wiblingwerde" könnte die Überschrift dieses Wahlkampfs lauten. So einen fairen und sachlichen Wahlkampf gibt es selten. Parteien und auch Bürgermeisterkandidaten verzichteten auf fiese Seitenhiebe und Vorwürfe. Es ging um die Sache, nämlich darum, die Menschen davon zu überzeugen, wer das Beste für die Gemeinde Nachrodt-Wiblingwerde bietet. Es gab Gespräche, die gingen in die Tiefe. Die Kandidaten gaben Einblicke in ihre Gefühlswelt. In sieben Monaten Wahlkampf lernt man sich kennen.

Als Bürgermeisterin Birgit Tupat am Sonntagabend um 17.45 Uhr an der Grundschule Nachrodt aus dem Auto ihres Lebensgefährten steigt, übermannen sie die Emotionen. Gleich würde die Wahlpräsentation starten und dann ist klar, wie es weiter geht. Die sonst so starke Frau lässt ihren Gefühlen ganz kurz freien Lauf. Es ist das Ende von einem Wahlkampf über Monate. Der hat Spuren hinterlassen. Ihr Auftritt steckt an. Vor der Tür stehen gleich einige Parteivertreter von UWG, SPD und CDU - und eben wir, die Presse. Uns alle trifft dieser Moment der Emotionen und mehr als einer muss sich ein Tränchen wegwischen. Das war kein Moment der Schwäche, sondern einer der zeigte, wie sehr die Bürgermeisterin gekämpft hat, wie viel Kraft in den vergangenen Monaten aufgebracht wurde und wie wichtig dieser Moment nun ist. Es gibt Umarmungen und dann kehren alle zur Sachlichkeit zurück.

Es wird diskutiert. Wer wird wohl gewinnen? "So ahnungslos war ich noch nie", sagt Petra Triches (UWG). Vor der Tür ist man sich einig, dass alles passieren kann. Die Tendenz geht zu "Birgit macht das heute". Wenn eine Stichwahl, dann mit Christian Pohlmann (SPD). Aykut Aggül ist der Underdog. Er ist an dem Abend nicht da. Er hat eine eigene Wahlparty und auch eine eigene Wahlpräsentation. Das kommt nicht gut an. Seine Begründung: Er habe zu viele Gäste. Ein Argument, dass nicht zählt. Birgit Tupats Familie ist auch dabei. Christian Pohlmanns ebenfalls. Die Kandidaten der Parteien kommen mit ihren Männern und Frauen. Auch einige Kinder sind da. Gerd Schröder (SPD) hat sogar Gäste aus den USA dabei. Später zur Wahlparty kommen dann noch andere. Auch die Mitarbeiter der Verwaltung trudeln ein. Das Fehlen von Aykut Aggül, das starke Abgrenzen, fällt auf und kommt nicht gut an. Es kratzt am Wir-Gefühl. Aykut Aggül gehört nicht dazu. Er hat sich selbst ausgeschlossen. Und das nicht zum ersten Mal. Ein anderes Beispiel: Die Verhandlung in Sachen Lennebrücke vor dem OVG Münster. Alle Parteien, die Bürgermeisterin und die Vertreter der heimischen Presse fahren in einem Bus - gemeinsam. Ein Platz ist noch frei. Aykut Aggül fährt allein. Er sitzt auch abseits beim Warten auf den Verhandlungsbeginn. Beim Kaffeetrinken zwischen Verhandlung und Urteilsverkündung ist er nicht dabei. Nicht weil er ausgeschlossen wird, sondern weil er sich selbst zum Außenseiter macht.

Wie soll jemand, der ganz offensichtlich kein Teamplayer ist, den Rat in schwierigen Fragen vereinen, zwei Gemeindeteile weiter verbinden? In den Gesprächen sind sich die Vertreter der Parteien einig: Das wird nicht gelingen.

Viele Gäste kamen zur Wahlpräsentation in der Grundschule.
Foto: Schmidt

Derweil trudelt Christian Pohlmann ein. Er ist angespannt. Am Abend zuvor gab es noch ein längeres Gespräch. "Ich habe alles gesagt, was ich sagen wollte. Jetzt entscheiden die Bürger." Ungeduldig warten die Anwesenden im Raum auf die ersten Ergebnisse. Das Publikum ist bunt gemischt. Es haben sich keine reinen Parteigrüppchen gebildet. Es wird gelacht und geklönt. Bis dann doch endlich die ersten Ergebnisse eintrudeln. Dann ist es kurz still. Claudia Meulenberg bemüht sich, schnellstmöglich die Ergebnisse zu öffnen. 54 Prozent für Birgit Tupat im Amtshaus. Wenig später kommt heraus, Birgit Tupat und Aykut Aggül liegen im Jugendzentrum gleich auf. "Birgit macht´s", sind sich die ersten sicher. Im Jugendzentrum wählt die Werkssiedlung. Aykut Aggüls stärkste Community. Aggül ist damit als Konkurrent raus. 87 Prozent für Birgit Tupat in der Schönen Aussicht. Ein unglaubliches Ergebnis bei zwei Gegenkandidaten. Es ist klar, sie wird die Wahl gewinnen. Sie selbst erlaubt sich die Freude noch nicht so richtig.

Aber Aykut Aggül registriert das Ergebnis ebenfalls. Macht sich auf den Weg in die Aula. Er überreicht der neuen Bürgermeisterin einen Blumenstrauß, bedankt sich bei seinen beiden Gegenkandidaten für einen fairen Wahlkampf. Fünf Minuten später ist er wieder weg. "So, ich habe gratuliert, jetzt muss ich mich wieder um meine Gäste kümmern." Er zeigt keine großen Emotionen. Damit verabschiedet Aykut Aggül sich aus dem Wahlkampf - und aus dem Rat. Denn er kandidierte nur als Bürgermeister, nicht weiter als Ratsherr. Setzte alles auf eine Karte. Seinen Platz bekommt nun die FDP. Aykut Aggül wird fehlen. Er hat mitgedacht, sich getraut, anders zu sein. Das war nicht immer gut und erfolgreich, aber wichtig. So ein Abschied und Rückzug sind unangemessen für jemanden, der sich so lange engagiert hat. Aber irgendwie auch typisch Aykut Aggül.

Und Christian Pohlmann? Der muss sich einen Moment sammeln. Er ist sichtlich traurig. Auch er hat alles gegeben in den letzten Monaten. "Mein Ziel war schon, zumindest mit Birgit in die Stichwahl zu gehen", sagt er und setzt sich kurz zur Presse - ein wenig abseits des Trubels. "Habe ich es nicht geschafft, meine Ideen zu vermitteln? Waren sie nicht gut?" Ein emotional ehrlicher Moment, der zeigt, wie viel Energie Pohlmann in den vergangenen Wochen aufgebracht hat. Diese Situation allein auf dem Stuhl, voll mit Selbstzweifeln, tut beim zusehen weh. Er wäre gerne Bürgermeister geworden, hat alles gegeben. Und jetzt? "Morgen geht es wieder normal zur Arbeit", sagt er und bleibt noch einen kleinen Moment einfach sitzen.

Zwei Minuten später hat er sich gesammelt. Die Ergebnisse für die Gemeinderäte trudeln ein. Jetzt zählt für ihn eines: Ein gutes Abschneiden seiner Partei und möglichst viele Sitze im Rat - und natürlich sein Direktmandat. Das holt er souverän. Er kann wieder lachen und sich freuen. Politisch geht es für ihn also als Ratsherr weiter.

Zur Wahlparty von Birgit Tupat kamen Vertreter aller Parteien - beispielsweise Armin Speckmann (FDP).
Foto: Schmidt

Die Ergebnisse sind raus. Es gibt Gewinner und Verlierer stehen fest. Das muss gefeiert werden. Bürgermeisterin Birgit Tupat hatte bereits im Vorfeld in den Kuhstall in Rennerde eingeladen. CDU, FDP und Matthias Lohmann hatten bereits zugesagt. Zudem nahezu das gesamte Dorf und ihre Familie. Doch dabei würde es nicht bleiben.

Es gibt Applaus für die neue Bürgermeisterin. Alle erwarten sie vor dem Kuhstall. Es gibt Umarmungen und Glückwünsche und es fließen wieder Tränen. Die Anspannung fällt ab. Es ist geschafft und die Situation zeigt, wie viele Menschen hinter ihr standen. Das, was das Wahlergebnis zeigte, wird in diesem Moment Realität. Viel mehr sind da, als ursprünglich gedacht. Unternehmer, Vereinsvorstände, Nachbarn, Freunde, ehemalige Ratsmitglieder, Mitarbeiter der Verwaltung, die CDU, die FDP und später auch noch die SPD und die UWG. Alle feiern sie gemeinsam. Nicht den Gewinn oder Verlust, sondern den Beginn einer neuen Legislaturperiode. Es ist das große Wir. Das "Wir für Nachrodt-Wiblingwerde". Und diesen Vibe gilt es nun mitzunehmen in die erste Sitzung des Rats. Die Politik steht vor großen Herausforderungen - aber wenn es gelingt, diese Stimmung mitzunehmen, alle an einem Strang ziehen, dann wird es ein Erfolg. Wir freuen uns auf Diskussionen auf Augenhöhe, auf einen politischen Diskurs, der weiterhin kritisch ist, aber eine Einigung im Sinne der Bürger hat.