Morgens, sechs Uhr, der Wecker klingelt. Gefühlt überhaupt nicht meine Zeit zum Aufstehen. Aber heute ist ein besonderer Tag. Ich darf die Kitzretter bei ihrer Arbeit begleiten. Also raus aus den Federn und ab zur Wiese in Buschhausen, die heute gemäht werden soll.
Denn bevor der Landwirt um acht Uhr mit seinem großen Traktor über die vier insgesamt 20 Hektar großen Wiesen fährt, muss dort geprüft werden, ob Rehe ihren Nachwuchs im hohen Gras versteckt haben. Von seinem Trecker aus hätte der Bauer keine Chance, die getüpfelten Kitze im Gras zu sehen – und da die Jungtiere auch bei Gefahr nicht weglaufen, würde er sie zwangsläufig überfahren. Ein Gemetzel, das niemand sich auch nur vorstellen, geschweige denn erleben möchte.
Los geht’s!
Die moderne Drohnentechnik erlaubt es den Kitzrettern heute, möglichst viele Jungtiere zu retten. Wie genau das abläuft, soll ich heute erfahren. Die Koordinaten für das Treffen mit den Kitzrettern habe ich am Abend vorher erhalten. Dank Navi finde ich Stefan Vogt und seine Helfer auch ohne Probleme auf den abgelegenen Wiesen. Wasserfeste Schuhe und warme Kleidung sind wegen der frühen Stunde ein Muss, denn ich wusste ja schon im Vorfeld, dass längere Märsche über das noch feuchte Gras anstehen, sobald die Drohne ein Kitz anzeigt.




Stefan Vogt hatte der Drohne die abzufliegende Fläche bereits einprogrammiert, so dass erste Flug direkt starten kann. Mit Geräuschen, die auch von einem Bienenschwarm stammen könnten, startet die Drohne in den Morgennebel. Alle Helfer gucken gespannt auf den kleinen Bildschirm, der mit der Fernbedienung verbunden ist. Da bei einer Farbaufnahme die im Gras gut getarnten Kitze nicht zu erkennen wären, benutzt Stefan, unter Tierfreunden ist man schnell beim „Du“, die Wärmebildfunktion.
Minuten vergehen, aber endlich zeigt der Bildschirm einen hell leuchtenden Punkt. „Da ist was“, freut sich Stefan und schaltet den Monitor der Fernbedienung auf das Farbbild um. Nun bin ich wahrlich kein Experte, aber sollte ein Rehkitz nicht Punkte im Fell haben? Und tatsächlich. Wir haben einen Fuchs gefunden. Verschlafen guckt er Richtung Drohne und trollt sich ein paar Meter weiter. An diesem Morgen finden wir noch einen Hasen und eine Katze. Schön zu sehen, aber diese Tiere brauchen unsere Hilfe nicht.


Wie schützt man eine trächtige Ricke?
Dann wird es aber doch noch mal spannend. Die Wärmebildkamera entdeckt eine hochträchtige Ricke. Sie liegt im Gras und die Frage ist, ob sie sich bereits im Geburtsvorgang befindet. Was tun? Aufschrecken ist keine Option, denn das könnte bedeuten, dass sie ihr Kitz verliert. Kann man ihr Zeit lassen, oder ist der Landwirt mit dem Mähwerk schneller?
Da an diesem Morgen noch drei weitere Wiesen abzufliegen und anschließend zu mähen sind, bleibt die Option, den Lohnunternehmer zu kontaktieren, damit er seine Planung ändert, und die Wiesen in anderer Reihenfolge abmäht. Zum Glück ist er kooperativ. Also schnell die anderen Wiesen mit der Drohne kontrollieren. Auch hier ist kein einziges Kitz zu finden. Ein Kontrollflug über den Liegeplatz der trächtigen Ricke zeigt, dass sie sich inzwischen ein ruhigeres Plätzchen gesucht haben muss, denn sie ist verschwunden.

Meine Gefühle sind zwiegespalten. Einerseits bin ich traurig, dass wir kein Kitz gefunden haben, das wir retten konnten, denn dafür sind wir ja früh unterwegs gewesen. Auf der anderen Seite haben wir die Sicherheit, dass auf diesen Flächen kein Tier einen qualvollen Tod sterben wird. Dennoch fahre ich ein bisschen enttäuscht nach Hause. Ich hätte doch so gern geholfen, ein kleines Kitz zu retten! Dann der Anruf – morgen gibt es in den Abendstunden eine neue Chance auf einer anderen Wiese. Herzklopfen und der feste Glaube: „Morgen klappt es.“
Am nächsten Abend dann auf nach Breckerfeld. „Hier finden wir bestimmt Kitze“, ist Stefan sich sicher. Nach abenteuerlicher Anfahrt zum Feld geht alles so los, wie am Vortag. Stefan startet die Drohne, Minuten vergehen, die Spannung steigt. Werden wir ein Kitz retten können? Und endlich sehen wir die Umrisse eines zusammengeduckten Jungtiers. Der Stand der Drohne und die von ihr angegebenen Koordinaten sagen uns, wo wir es im hohen Gras finden können. Schnell eine der Kisten geschnappt und los geht’s in die Richtung, die uns die Drohne weist. Vorsichtig, um das Kleine nicht zu erschrecken, legen wir die letzten Meter zurück.
Wir haben ein Kitz gefunden!
Stefan, der am Rand der Wiese stehen geblieben ist und unsere Suche mit der Drohne leitet, gibt per Funk letzte Anweisungen. „Noch einen Meter nach rechts. Ja da. Du stehst direkt davor!“, hören wir. Und da liegt es. Unglaublich – obwohl ich nur einen halben Meter entfernt stehe, hätte ich es ohne die Richtungsanweisungen von Stefan nicht gesehen. Der Anblick ist einfach unbeschreiblich. Große Augen gucken zu uns rauf. Ob es Angst hat? Sicher hat es noch nie einen Menschen so nah gesehen. Wir müssen allein wegen unserer Größe wahnsinnig bedrohlich auf das Kitz wirken.
Die Helfer handeln schnell und leise – ab jetzt wird nur noch geflüstert -, um das Tier nicht noch mehr zu stressen. Damit der menschliche Geruch überdeckt wird, wird noch schnell ein Büschel Wiese gepflückt. Dann ein beherzter Griff mit den behandschuhten und grasgepolsterten Händen, um das Kitz schnell in die mit Gras ausgepolsterte, bereitstehende Kiste zu setzen. Das Jungtier ist, für alle Helfer überraschend, aber schon relativ mobil und versucht die Flucht vor den Rettern.
Zum Glück ist Frauke Bornemann dabei. Ihre Erfahrung hilft, es sicher zu fassen und unverletzt in die Kiste zu setzen. Damit es nicht wegspringen kann, wird die Kiste sicher verschlossen. Aus dem Waldrand hört man die Ricke schreien. Es ist herzzerreißend. Wie gern würden wir dem Muttertier erklären können, dass wir ihr Kind nur schützen wollen und sie es, sobald die Gefahr vorbei ist, wiederbekommt. Uns bleibt nur, es mitsamt seiner Kiste an den Rand der Wiese zu stellen, damit sie dem Trecker später nicht im Weg steht.



Wie lange das Kitz in der Kiste bleiben muss, hängt nun ganz vom Landwirt ab. Erst wenn er die komplette Wiese abgemäht und das Gras gewendet hat, können wir das Jungtier gefahrlos aus der schützenden Box entlassen.
Jetzt geht es Schlag auf Schlag
Kaum ist das Kitz gesichert, kommt über Funk die Nachricht von Stefan: „Ich hab noch eins – nein, zwei. Es sind Zwillinge.“ Schnell läuft einer der Helfer zurück, um weitere Kisten zu holen, während wir uns mit der Suchmannschaft auf den Weg machen, um den Anweisungen zu folgen, in welche Richtung wir gehen müssen. Hier zeigt sich wieder, wie wertvoll die Hilfe der Drohne ist. Nur ihr Wärmebild kann die Jungtiere, die höchstens ein paar Tage alt sind, finden. Keine Suchmannschaft zu Fuß würde sie sehen können und der Landwirt auf dem Trecker hat überhaupt keine Chance.
Wir konnten so aber zwei weitere Leben retten. Die Zwillinge lassen sich widerstandslos in die Kisten setzen. Ganz verschreckt gucken sie nach oben, bevor sich der schützende Deckel über ihnen schließt. Heike, eine der Helferinnen, verdrückte ein paar Tränen der Rührung. „Das ist so schön zu wissen, dass dieses Kitz nun weiterleben darf“, freut sie sich. Und dann – die Aktion war fast schon als beendet angesehen – noch ein Jubelruf von Stefan. „Da sind noch zwei!“. Auch diese beiden konnten wir in bewährter Manier in die Schutzkisten setzen.
Nun stand noch das lange Warten an. Denn erst, wenn der Trecker mit seiner Arbeit komplett fertig ist, also wenn keine Gefahr mehr besteht, dass ein Kitz auf der Suche nach seiner Mutter von den Maschinen verletzt werden kann, können wir es freilassen. Je länger das Warten aber dauert, umso unruhiger werden die erfahrenen Helfer. Denn auch wenn es auf Grund der späten Stunde in den gut belüfteten Kisten für die Kitze nicht zu warm wird, brauchen die Babys doch in relativ kurzen Abständen immer wieder Milch von ihrer Mutter. Schließlich sollen sie nicht vor dem Trecker gerettet werden, um anschließend zu verhungern.
Wieder in die sichere Freiheit
Alle beratschlagen gemeinsam und fällen die Entscheidung, das zuerst gefundene, mobile Kitz als erstes in die Freiheit zu entlassen, obwohl der Landwirt auf der anderen Seite des großen Feldes noch arbeitet. „Die Mutter ruft von der anderen Seite, dort wird es hinlaufen“, ist das Resultat der Beratung. Wir tragen seine Kiste an den Waldrand, möglichst nah an die Stelle, wo wir seine Mutter zuletzt gesehen und gehört haben. Inzwischen geht es auf Mitternacht zu und es ist stockdunkel.
Langsam wird der Deckel geöffnet, bis auf eine Rotlichtlampe werden alle Lichtquellen ausgeschaltet. Vorsichtig, wieder geschützt mit Handschuhen und Gras, hebt Frauke das Kitz aus der Kiste. Kaum berührt es den Boden, strampelt es sich frei und springt in den Wald. Wir hoffen alle, dass sich Mutter und Kind möglichst schnell finden. Die Richtung, in die es gelaufen ist, stimmt auf jeden Fall!
Dann steht noch mal eine halbe Stunde Warten an, bis auch die letzte Fläche frei von Landmaschinen ist. Endlich können wir die beiden Zwillingspärchen auch wieder in die Freiheit entlassen. Und das Beste: Stefan konnte über die Drohne schon sehen, dass sich die Muttertiere ihren Kitzen wieder näherten. Das Happy-End der Geschichte wurde also sogar dokumentiert.
Warum das Ganze?
Die Kitzretter beschreiben den Grund für ihre ehrenamtliche Hilfe auf ihrer Homepage mit einem Satz: „Wir wollen Hand in Hand mit Bauern und Jägern sinnloses Tierleid verhindern!“, heißt es da. Früher gingen freiwillige Helfer in langen Menschenketten über das zu mähende Feld, um die gut versteckt liegenden Jungtiere zu finden, die von ihren Müttern im für sie sicher scheinenden hohen Gras abgelegt wurden. Da es aber immer weniger Weidetierhaltung gibt, die Kühe also das Gras nicht mehr abfressen, müssen die großen Wiesen komplett gemäht werden.
„Bei der Größe der Flächen ist es heute nicht mehr zu schaffen, diese zu Fuß abzusuchen“, erzählt mir Jagdpächter Lutz Rosiepen, der die Arbeit der Kitzretter beobachtet. „Tricks, die früher versucht wurden, um die Tiere aus den Weiden zu vertreiben, funktionieren auch nicht besonders gut“, weiß er und denkt dabei an Bänder, die in die Wiesen gesteckt werden und nach Raubtieren riechen, oder an blinkende Baustellenlampen. Die sollen die Ricken eigentlich davon abhalten, ihre Kitze in den Wiesen abzulegen, aber der Erfolg bleibt dabei meistens aus. Dass moderne Maschinen gefährlicher sind als Füchse oder andere Raubtiere, können die Muttertiere nicht wissen.

Das Gesetz verpflichtet – die Hilfe ist kostenlos
Der Tierschutz ist seit 2002 auch per Gesetz verpflichtend. Er besagt, dass Schutzmaßnahmen, soweit möglich, bei der Mahd zu ergreifen sind. Genau heißt es im Gesetz, dass die Mahd ohne Schutzmaßnahme für sich allein kein vernünftiger Grund, ein Tier zu verletzen oder zu töten. Landwirte, die sich nicht an dieses Gesetz halten, riskieren Geld- oder sogar Gefängnisstrafen.
Ein Risiko, das einzugehen völlig unnötig ist. Denn die Kitzretter machen ihre Arbeit ehrenamtlich. Es kostet den Landwirt also nur einen Anruf beim Verein. Der Landwirt teilt mit, wann er sein Feld mähen will, und die Tierfreunde suchen das Feld kurz vorher ab. Wie ich selber erleben durfte, kann das am frühen Morgen genauso wie am späten Abend sein. Die Kitzretter passen sich an, um möglichst viele Tiere vor einem grausamen Tod zu schützen.
Wissen rund ums Kitz und die Kitzretter
- Ricken legen ihre Kitze im hohen Gras ab, um sie vor Wildtieren zu schützen. Die Jungtiere geben keine Gerüche ab, und wenn sie sich nicht bewegen, können Fuchs und Co sie nicht entdecken. Aber gerade dieses starre Liegenbleiben bei Gefahr bringt ihnen den Tod bei den Mäharbeiten.
- Viele Wiesen sind wegen der Wärme schneller gewachsen und daher schon gemäht, bevor die Kitze von den Ricken dort abgelegt wurden. Für Stefan Vogt und sein Team heißt das, dass sie in diesem Jahr so wenig Kitze gefunden haben, wie noch nie.
- Die Flugzeiten der Drohnen richten sich danach, wann der Landwirt mähen möchte. Der Flug muss kurz vor dem Schnitt erfolgen, denn sonst besteht die Gefahr, dass die Rehe zwischen Sichtungsflug und Mahd wieder auf die Wiesen einwandern. Deshalb ist eine gute Teamarbeit zwischen Landwirt und Kitzrettern wichtig.
- Für die Drohnensuche ist es vorteilhaft, wenn möglichst kalte Außentemperaturen herrschen. Nur so lassen sich die warmen Körper der Kitze gut erkennen. Bei steigenden Außentemperaturen zeigt die Drohne auch großblättrige Pflanzen oder Maulwurfshügel an, die ebenfalls Wärme abgeben. Das macht die Suche deutlich schwieriger.
- Viele Rehe weichen inzwischen von den Wiesen auf die Flächen aus, die nach der Borkenkäferplage frische Naturverjüngung haben. Hier können sie ihre Jungtiere gut verstecken.
- Die Drohne fliegt 40 Meter über dem Boden. Sie wird so programmiert, dass sie die abzusuchende Strecke automatisch abfliegt. So wird kein Quadratmeter Wiese übersehen. Der Pilot kann sich dabei ganz auf das angezeigte Bild konzentrieren.
- Auch die Bundesregierung unterstützt den Schutz der Kitze. Bereits 2021 wurde nach Informationen von ZDF heute ein Förderprogramm für die Anschaffung von Drohnen zur Kitzrettung beschlossen. Auch die neue Regierung wird das Programm weiterführen und stockt die Fördersumme sogar auf 2,5 Millionen Euro auf.
- Die Kitzretter Hagen arbeiten ehrenamtlich und sind neben den Fördergeldern auf Spenden angewiesen, um die Drohnen, die speziell angefertigten Kisten, Funkgeräte und weiteres Zubehör zu finanzieren. Alle Informationen über den Verein und das Spendenkonto finden sich hier.
