Von der „Königin der Autobahnen“ zum Straßenwrack, von der schnellsten Verbindung zwischen Ruhr und Main zum Dauerärgernis, von der kühnen Berechnung zur niederschmetternden Bilanz, dass aus heutiger Sicht falsch, weil zu knapp, gerechnet wurde – 60 Jahre Rahmedetalbrücke sind sechs Jahrzehnte falscher Annahmen, technischer Vernachlässigung und falscher Entscheidungen.

Der Ministerpräsident vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss
Wenn am Montag, 7. Juli, NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst vor dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss als Zeuge auftritt, wird es darum gehen, was er in seiner Amtszeit als NRW-Verkehrsminister (von 2017 bis 2021) in Sachen Rahmedetalbrücke tat oder unterließ, was er wusste, er ahnte, was vor ihm verborgen gehalten wurde. War Wüst aktiv beteiligt, den Neubau der Brücke nach hinten zu schieben? Oder war er bestenfalls Beobachter an der Seitenlinie, weil Betrieb, Wartung, Prüfung, Gefahrenbeurteilung und Sperrung der Brücke Aufgabe der Fachdienste war? Oder anders: Ist es überhaupt vorstellbar, dass ein Landesverkehrsminister bis in eine örtliche Autobahnmeisterei hinein dekretiert? Und kann es so etwas tatsächlich gegeben haben?
Die Sauerlandlinie als "Königin der Autobahnen"
Seit 1965 wurde an der ersten Rahmetalbrücke gebaut. Die Sauerlandlinie war die erste Autobahn, die komplett neu in Nachkriegsdeutschland geplant und gebaut wurde. Bis dahin umfasste das Bundesautobahn-, frühere Reichsautobahnnetz, nur die Grundlinien, die „einziffrigen“ Autobahnen. In Nord-Südrichtung waren das die A 1 bis A 9, in Ost-West-Richtung die A 2 bis A 8.

Nun kam es in Westdeutschland mit der „zweiziffrigen A 45“ zum Bau der zweiten Verbindung zwischen Ruhrgebiet und Süddeutschland, einem Projekt, das im Wirtschaftswunder- und Autoland BRD kulturell aufgeladen wurde wie kein zweites. Wer heute Begriffe wie „die Königin der Autobahnen“ hört oder die 1970 und 1971 entstandenen Paul Kellermann-Filme „Schönes Südsauerland“ und „Rund um das Ebbegebirge“ anschaut, der wird mitgerissen von der Woge der Begeisterung. Die neue Zeit kam für das märkische Sauerland mit der neuen Autobahn, die sich auf zierlichen Brücken kühn durch die Landschaft wand. Aber schon damals waren die Annahmen – sagen wir es so – blauäugig.

Die Enzyklopädie Wikipedia zitiert aus der Verkehrsprognose des Jahres 1965:„Die Verkehrsplaner prognostizierten in den 1960er Jahren, dass im Jahre 1980 täglich 25.000 Fahrzeuge die A 45 nutzen würden. Ende der 2010er Jahre waren es täglich 64.000 Fahrzeuge, davon 13.000 Lastkraftwagen. Ende der 1950er Jahre lag das zulässige LKW-Gesamtgewicht bei 24 Tonnen und 8 Tonnen Achslast. 1960 betrug das zulässige LKW-Gesamtgewicht 32 Tonnen und die Achslast 10 Tonnen, 1968 38 Tonnen. Unter diesen Bedingungen betrug die theoretische Nutzungsdauer 70 Jahre, ab dem Jahr der Fertigstellung. Im Jahr 2021 waren maximal 40 Tonnen und 11,5 Tonnen Achslast, im kombinierten Verkehr bis 44 t Gesamtmasse zulässig. Hinzu kamen häufige illegale Überschreitungen von Gesamtgewicht und Achslasten."
Die Generation der Baumeister, die die Sauerlandlinie verwirklichten, war zeitlebens davon überzeugt, an einem Jahrhundertprojekt beteiligt zu sein. Die A 45 war der Höhepunkt ihres Berufslebens; an der Königin der Autobahnen mitzubauen, war eine Ehre und prägte ihr Denken für das Berufsleben nach Inbetriebnahme der „Sauerland-Höhenstraße“.
„Sicherheit und Leichtigkeit“ für den Verkehr geschaffen zu haben, war bei den Erbauern der Strecke zeitlebens wieder immer Thema und die eleganten Brücken, zuvorderst die Rahmetalbrücke und ihre Schwesterbrücke, die Talbrücke Brunsbecke, symbolisierten diese Leichtigkeit am besten. Der Vergleich mit den schweren Brückenkonstruktionen der Reichsautobahnen der 30er Jahre versinnbildlicht den kulturellen Wandel überdeutlich.
Schwerer, kräftiger, immer mehr: Der Lastverkehr trampelt die Brücke tot
Was in den 60er und 70er Jahren nicht kalkuliert war, das waren die schon erwähnten exponentiellen Steigerungen der Verkehrszahlen und der Gewichte. Auch die technische Entwicklung der immer schwereren Lastkraftwagen darf nicht vergessen werden: Als die A 45 geplant wurde, hatten Lkw 150 PS unter der Haube; gebremst wurde mit Trommelbremsen und Auspuff-Drosselklappen-Motorbremsen. Heute sind 500 PS keine Ausnahme; Scheibenbremsen und Retarder als Getriebebremse greifen an.
Die auf die Fahrbahn - die Brücken – wirkenden Schub- und Bremskräfte liegen um ein Vielfaches über denen von vor 60 Jahren. Kommen bei der Befahrung noch Querkräfte hinzu wie bei der im Bogen verlaufenden alten Rahmedetalbrücke, wird das Material einer zusätzlichen Belastung ausgesetzt. Für das, was die Rahmedetalbrücke während ihres Betriebs zwischen 1968 bis 2021 tatsächlich geleistet hat, war sie weder vorgesehen noch dimensioniert. Sie wurde zeitlebens überlastet, weil sich der Verkehr entwickelte, wie er sich eben entwickelte. Oder anders: Hinterher ist man schlauer.

Wie es technisch ausging, ist hinlänglich bekannt: Am 2. Dezember 2021 wurde die Brücke von jetzt auf gleich gesperrt. Zu einer Notinstandsetzung kam es nicht mehr. 2023 wurde gesprengt – auf die Eröffnung des zügig vorangehenden Neubaus und die Wiederinbetriebnahme der Sauerlandlinie wartet nicht nur die Region sehnsüchtig.
Die deutsche Frage: Ist jemand schuld an dem Elend?
Wer trägt die Schuld an der täglich unerträglichen Situation auf unseren Straßen, wer hat womöglich den Bau einer Ersatzbrücke herausgezögert und das tägliche Verkehrschaos damit heraufbeschworen?

Haben die Planer und Erbauer der 60er Jahre eine Mitschuld? Das Kraftfahrt-Bundesamt, das im Verein mit der bundesdeutschen Politik immer schwerere Lastzüge zuließ? Die Straßenbauverwaltung, die über Jahrzehnte die Abnutzung und Überlastung der Brücke beobachtete und bei Brückenhauptprüfungen doch akzeptable Werte notierte, die einem Weiterbetrieb nicht entgegenstanden? Reduziert sich „Schuld“ an einem 55 Jahre betriebenen bundeseigenen Brückenbauwerk auf die vier Jahre Amtszeit eines Landesverkehrsminister, der sein Ministerium nach einer ganzen Reihe von Verkehrsministern anderer Parteien übernahm und der in der Schlussphase der Brücke gar nicht mehr zuständig war?
Ein Untersuchungsausschuss soll klären, wer politisch haftbar ist
Ein Parlamentarischer Untersuchungsausschuss untersucht seit März 2023, wer verantwortlich gemacht werden kann. Am Montag, 7. März, wird der heutige Ministerpräsident und ehemalige Landesverkehrsminister Hendrik Wüst vom „PUA“ befragt.
Zuletzt hatte die Aussage einer Mitarbeiterin der Autobahn-GmbH für mediale Schnappatmung gesorgt, wonach einige Monate vor der Sperrung der Brücke unter Sachkundigen der Behörde über „falsche“ und „richtige“ Brückennachberechnungen diskutiert worden sei. Ein dazu gefertigtes Protokoll aber wurde nie verteilt, weil im Gremium Dissense über Formulierungsfragen auftraten und der Protokollant seinen Entwurf zurückzog. Ist das ein Beweis dafür, dass „geschludert“, dass „weggesehen“ wurde, dass Fachleute ihrer Verantwortung nicht gerecht wurden, womöglich zu dieser Handlung angeleitet vom heutigen Ministerpräsidenten? Nicht weniger als das steht als Vorwurf im Raum.


Prüfingenieure der Bundes-Autobahn, die vorsätzlich oder fahrlässig falsch prüfen, zu diesem Handeln instrumentiert von der Landesregierung? Eine Mitarbeiterin der Autobahn GmbH, die sich unter Druck gesetzt fühlt, als es ihr um Sicherheitsfragen gegangen sei? Wirklich??? Tatsächlich wurde doch die Rahmedetalbrücke im Dezember 2021 von jetzt auf gleich gesperrt, ohne dass es zuvor zu Schäden an Leib und Leben kam! Zum Schluss hatten doch die Sicherheitsmechanismen gegriffen!
Am 7. Juli geht es ab 10 Uhr also darum, was Ministerpräsident Hendrik Wüst in der dann 37. Sitzung des PUA zur Brückenmisere erinnert. Er ist als erster von drei Zeugen geladen. Anschließend ist Kultur- und Wissenschaftsministerin Ina Brandes (CDU) um 14 Uhr vor den Ausschuss geladen. Sie war die Nachfolgerin von Wüst im damaligen Verkehrsministerium. Als dritter Zeuge wird der heutige Verkehrsminister Oliver Krischer (Grüne) um 16 Uhr auftreten. In den inzwischen 36 Sitzungen war bisher schuldhaftes und/oder vorsätzliches Fehlhandeln – von wem auch immer - nicht nachweisbar, wohl blieb stets der Eindruck, dass von der Brücke verlangt wurde, wofür sie nicht konstruiert war, dass obendrein belegbar an der Wartung gespart wurde.
Für den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss sind nach der am Montag stattfindenden Sitzung noch bis in die vierte Adventswoche 2025 hinein sieben weitere Sitzungen anberaumt.
Der Fall des „verschwundenen Protokolls“ und der „Unterdrucksetzung“ einer Ingenieurin
Dr. Jörg Geerlings ist der Sprecher der CDU im Parlamentarischen Untersuchungsausschuss. Er kommentiert die Angelegenheit des Protokolls so:„Sofern die Aussagen einer Zeugin dahingehend zitiert werden, dass sie bzw. Mitarbeiter der Autobahn GmbH „unter Druck gesetzt worden“ seien und es ein „bedrängendes Verlangen“ gegeben habe, möchte ich darauf hinweisen, dass diese Zeugin ihrer Aussage zufolge erst seit September 2021 als Bauingenieurin bei der Autobahn GmbH mit der Rahmedetalbrücke befasst war.
Sämtliche von ihr geschilderten Vorgänge fallen in die Zeit nach dem 1. Januar 2021, als nicht mehr das Land, sondern der Bund mit seiner Autobahn GmbH des Bundes für die Brücken auf Bundesautobahnen zuständig war. Der Parlamentarische Untersuchungsausschuss untersucht entsprechend seinem Untersuchungsauftrag lediglich eventuelle Versäumnisse und Fehlverhalten in Landeszuständigkeit.“
Geerlings erklärt weiter:
"Die Autobahn GmbH des Bundes hat nach dem Zuständigkeitswechsel Anfang 2021 eine „Bestandsaufnahme“ aller Brücken gemacht. Die Zeugin hat angegeben, dass sie von ihrer Vorgesetzten gebeten worden sei, die Restnutzungsdauer für die Rahmedetalbrücke zeitnah zu berechnen. Dass sie dabei „bedrängt“ worden sei bzw. dass die Betriebszeit entgegen dem Regelwerk verlängert werden sollte, hat die Zeugin nicht gesagt. Im September 2021 hat die Zeugin an einer Besprechung mit weiteren Mitarbeitern der Autobahn GmbH teilgenommen, in der es um Details zur Berechnung der Restnutzungsdauer der Rahmedetalbrücke bis zur Fertigstellung des Ersatzneubaus ging.
Bis zu diesem Zeitpunkt war die Brücke lediglich von einem Ingenieurbüro statisch nachgerechnet worden und es waren Ablastungsmaßnahmen veranlasst worden; dies war regelkonform. Beim Landesbetrieb Straßen.NRW war man zuvor aufgrund dieser Maßnahmen davon ausgegangen, dass die Brücke bis zur Fertigstellung des Ersatzneubaus nutzbar sein würde, zumal die 2017 und 2020 erfolgten Brückenprüfungen keinen Anlass zu einer gegenteiligen Annahme boten. Dies haben auch zahlreiche weitere vernommene Zeugen bestätigt."

"Die Zeugin hielt eine genaue Schadensermittlung für die Berechnung der Restnutzungsdauer für erforderlich, zumal die Brücke entsprechend der in dieser Besprechung präsentierten Neukalkulation der Planungs- und Bauzeit des Ersatzneubaus noch 15 Jahre nutzbar sein sollte. Im Rahmen der Schadensermittlung schätzte die Zeugin einen bereits seit dem Jahr 2011 bekannten Schaden für weiter überprüfungsbedürftig ein, der allerdings zuvor bei den Brückenprüfungen von den Brückenprüfern stets als nicht bedenklich im Hinblick auf die Standfestigkeit und Verkehrssicherheit der Brücke erachtet worden war. Daher wurden ergänzende Untersuchungen mittels eines Laserscans vereinbart und veranlasst. Erst diese brachten Anfang Dezember 2021 das Ausmaß der Brückenschäden ans Licht.
Die Untersuchung mittels Laserscan gehörte weder zum damaligen Zeitpunkt noch heute zum Standard bei Brückenprüfungen. Die Zeugin hat bestätigt, dass es zuvor keinen Anlass gegeben habe, die Brückenprüfberichte und die in Listen eingetragene Restnutzungsdauer anzuzweifeln, sondern dass man sich vielmehr auf die Bewertung der Brückenprüfer verlassen kann. Zudem glaubt sie nicht, dass die Verkehrsführung für die Schäden verantwortlich war."
Zu dem sog. „verschwundenen Protokoll“:"Im Nachgang zu der genannten Besprechung gab es bezüglich des Protokolls, das ein Teilnehmer erstellt hatte, Änderungswünsche von weiteren Teilnehmern, die andere Formulierungen und Fachtermini wünschten. Schließlich hat der Protokollverfasser das Protokoll zurückgezogen und die Teilnehmer haben sich auf ein Dokument mit wesentlichen Eckpunkten geeinigt. Dies hat die Zeugin als nicht ungewöhnlich bezeichnet, zumal das Protokoll wegen der veranlassten Vorgehensweise nicht mehr benötigt worden sei. Dementsprechend ist das Protokoll auch nicht weitergeleitet worden an Vorgesetzte und Hausleitungen. Der Entwurf des Protokolls und sämtliche Änderungsmodi sind dem Untersuchungsausschuss im März 2025 vom Verkehrsministerium des Bundes, in dessen Zuständigkeitsbereich sich seit Anfang 2021 alle Unterlagen zu Bundesautobahnen befinden, geliefert worden. Von einem „verschwundenen Protokoll“ kann daher keine Rede sein.“