Zwölf Jahre. Diese Zeitspanne hat der Gedenkzellen-Verein aufgegriffen und zur Idee einer beeindrucken Ausstellung im Rathaus-Foyer gemacht, die noch bis zum 30. Mai geöffnet ist und zu der es ein hervorragendes gedrucktes Begleitheft gibt. Zwölf Jahre vor 1945 und zwölf Jahre nach 1945 werden aus Lüdenscheider Sicht beleuchtet. Nun war Eric Esser mit seinem prämiierten Film „Nestwärme – mein Opa, der Nationalsozialismus und ich“ im Rahmen der Ausstellungswochen zu Gast.
Zwölf Jahre, die Deutschland und Europa umpflügten. Zwölf Jahre, die in sehr vielen deutschen Familien bis auf den heutigen Tag andauern. Weil nach 1945 nicht gesprochen wurde. Weil Kriegserlebnisse, Verstrickungen, persönliche Schuld, im Dunkeln blieben. Vor großer Teilnehmerzahl führte Eric Esser in der Kulturkneipe „Frieda“ seinen Film vor. Es wurden zweieinhalb Stunden, in denen nicht nur die Familiengeschichte der Essers ein Stück weit ausgeleuchtet wurde. Es wurde spürbar, wie sehr auch die nachgeborenen Generationen an der Bürde jener zwölf Jahre tragen. Das Trauma der tausend Jahre, es wirkt fort.

Was weiß man wirklich über seine Vorfahren, über die Großeltern?
„Ich weiß eigentlich nicht viel über diesen Menschen“, bekennt Eric Esser in seinem Film über seinen Großvater Albrecht, der ihm ein guter, ein liebevoller Opa war und der 1992 starb, als Eric 17 Jahre alt war. Warmherzig sei er gewesen, ein starker Raucher, der seinem Enkel Zigarettenqualm in die Seifenblasen blies. Halten wir fest: Eric wusste über seinen Großvater – nichts.
Das ändert sich, als er im Nachlass seines Opas einen kurzen Film findet, der auf einem Volksfest 1941 entstand. Albrecht Esser trägt am Revers ein überdeutlich erkennbares Hakenkreuz. Sein Blick ist nicht zu deuten, seine Stimmungslage nicht zu entschlüsseln. Opa Albrecht, Prokurist und später Direktor eines Betriebes, der Rundstrickmaschinen baute, der mehrmals nach Israel reiste und mit einem Holocaust-Überlebenden befreundet war – war er in den unsäglichen zwölf Jahren ein ganz anderer, als er sich nach 1945 gab?
In Eric Esser bohrt es. Er nimmt sich die Kamera und beginnt zu forschen, befragt seine Familie, besucht Archive. Zwölf Jahre lang, und seine Suche dokumentiert er im Film, schneidet und betextet seine Studien.

Was weiß die erste Nachkriegsgeneration, was will sie wissen?
Esser befragt seinen Vater Eckart nach der geschichtlichen Verstrickung des Großvaters. Er interviewt seine Tante Hiltrud und seinen Onkel Klaus. Ihre Äußerungen sind mehr oder weniger deckungsgleich – und relativierend. Man hat den Vater nichts gefragt und er hat von sich aus nichts gesagt. Und überhaupt: Es wurde vorwärts gelebt.
Vieles liegt im Dunkeln. Geburtsort und Familienstand nicht: Albrecht Esser wurde 1905 in Hohenlimburg geboren, ein Sauerländer mithin. Beruflich wechselte er nach Stuttgart, war dort als kaufmännischer Angestellter und Prokurist in einer Firma tätig, die Rundstrickmaschinen herstellte. Im Krieg – das Unternehmen produzierte inzwischen „Kriegswichtiges“ – war Esser „UK“ (unabkömmlich) gestellt. Seine erste Frau starb 1944; später heiratete er wieder.
Mit der ersten Frau hatte Esser drei Kinder; es folgte mit der zweiten Frau Irma ein gemeinsamer Sohn, das vierte Esser-Kind. Der Sohn stellt seinem Vater im Film ein positives Zeugnis aus; die drei ersten Kinder schildern ihren Vater als unnahbar, als dogmatisch, fast diktatorisch. Ein Tritt vors Knie galt bereits als Liebkosung. „Er konnte uns nicht in den Arm nehmen.“ Filmer Eric Esser stellt fest: „Ein liebevoller Großvater muss kein liebevoller Vater gewesen sein.“ – Und tatsächlich: Diese Unnahbarkeit, das Nicht-Zulassen von Gefühlen, die Verweigerung von körperlicher Nähe, dieses tough zu sein in allen Lebenslagen – das wird nach dem Krieg in etlichen Familien zum beherrschenden Klima. Keine Regung zeigen, nach vorne leben!
Eric Essers Fragen lassen sich in der Familie nicht beantworten. Der Opa, der 1941 mit dem Hakenkreuz am Revers im Film zu sehen ist, wird von Essers Onkel als „Widerstandskämpfer im Innersten“ gedeutet. Die Zweifel nagen an Eric Esser. „Ich hatte mir meinen Opa bis dahin vorgestellt als den Ausnahmemann, der im Dritten Reich nicht mitgemacht hat.“

Foto: Aschauer-Hundt
Wo die Familienauskünfte stocken, kommen Archive ins Spiel
Als Esser in der eigenen Familie nicht weiterkommt – ein Onkel steht bereits als Gesprächspartner nicht mehr zur Verfügung, ist ausgestiegen – fährt er ins Bundesarchiv. Dort findet sich die NSDAP-Mitgliedskarte von Albrecht Esser. Mitgliedsantrag von 1940, Aufnahme 1941. Was aber heißt das? War Essers Opa eine Karteileiche, ein Mitläufer, ein Mittäter? War er ein „richtiger“ Nazi?
Antwort mag die vorliegende Entnazifizierungsakte geben. Deren Inhalt: Opa Esser war Blockwalter, kassierte Mitgliedsbeiträge für die NSDAP ein, war PG, Parteigenosse. Eine Reihe von „Persilscheinen“ – gute Beleumundungen durch Zeugen – ist ebenso Bestandteil der Akte wie eine Selbsteinschätzung von Albrecht Esser. Seine erste Frau Hiltraud Padberg aus der Familienlinie Löwenstein sei Halbjüdin gewesen, die er im Widerspruch zu den Rassegesetzen geheiratet habe.
Aus Furcht vor der Enttarnung – so mag man alles deuten – habe er sich der Partei untergeordnet, sei er PG gewesen. Das Spruchkammerurteil fällt aus wie bei einem Großteil der Beurteilten: Mitläufer, unkritisch, nur nominell am Nationalsozialismus teilgenommen, entnazifiziert gegen einen Sühnebetrag in Höhe von 1.500 Reichsmark. Der Spruch öffnet Albrecht Esser alle Türen zum „nach vorne leben“.
Die früh verstorbene Großmutter – tatsächlich eine Halbjüdin? Die Familie reagiert auf Fragen allergisch, lässt Mitwissen erkennen, formuliert ein so entschiedenes wie antijüdisches Nein. Der Name Löwenstein sei nicht-jüdisch, sondern einem Schloss in den Niederlanden entstammend. Die Zuschreibung „Halbjüdin“ sei erfunden, Mittel zum Zweck gewesen, eine Notlüge zur Erlangung des positiven Entnazifizierungsspruchs.
Es gab sie wohl wirklich, die Stunde Null
Der Spruch der Entnazifizierungskammer und die neue Ehe geraten Albrecht Esser zu einer tatsächlichen Stunde Null in seinem Leben. Im neuen Haus in guter Lage, das an die Stelle der kriegszerstörten Behausung trat, wird alles, was an die erste Frau erinnert, fortgeräumt, die Friedhofsbesuche werden eingestellt. Die Lüge in eigener Sache – juristisch zulässig – war erfolgreich; Albrecht Esser ist damit durchgekommen. Die Fabrik für Rundstrickmaschinen, in der es auch Zwangsarbeiter gegeben haben muss, stellt wieder „Friedensware“ her; Albrecht Esser steigt zum Direktor auf. Das Wirtschaftswunder übertüncht, Essers persönlicher Stunde Null sei Dank, alles Gestrige.
Filmer Eric Esser mag es nicht glauben. Der penible, obrigkeitsgläubige Opa, in vielen „Persilscheinen“ so gut beurteilt, ist er ein Lügner? Der Spruchkammer wäre es doch ein Leichtes gewesen, die Lüge als solche zu enttarnen? Wozu also dieses Risiko, mit einer Falschaussage aufzufliegen? Eric Esser recherchiert in der Familiengeschichte Padberg/Löwenstein, besucht die relevanten Archive im Saarland und in Barmen, spürt bis in napoleonische Zeiten der Familie hinterher. Ergebnis: Die Löwensteins waren stets und immer protestantisch, also evangelisch. Nicht jüdisch!
Eric Esser sucht erneut das Gespräch mit seinen Verwandten. „Lange her“, sagt die Tante. „Ja, und“, „Meine Güte“ sind weitere Äußerungen, bevor die Gespräche stocken, dann enden. Sprachlosigkeit bleibt zurück; das Thema wird im Familienkreis nicht mehr angetastet.
Was die Schule lehrte – und was sie verschwieg
Das passt zu den Schulerlebnissen von Essers Vater Eckart: „In der Schule hatten wir das Dritte Reich nicht. Unsere Lehrer kamen ja alle aus der Generation. Ich habe das alles erst nach der Schule erfahren, viel, viel später.“ Das dürfte vielen aus der ersten Nachkriegsgeneration so gegangen sein, fürwahr.
Zwölf Jahre währte das Tausendjährige Reich. Die zwölf Jahre dauern an; der Aufarbeitungsprozess begleitet die Nachkriegsgenerationen bis heute, berührt sie ein Leben lang. Die Generationen eins und zwei haben das Trauma aus Krieg, Bombennächten und Vertreibung geerbt, wie inzwischen wissenschaftlich erforscht wird.
Eric Essers Film – er erzeugt bei den Zuschauern in der Veranstaltung des Gedenkzellenvereins vielfältige Gefühle. „Tiefe Berührung“ wird in der Aussprache genannt, Ratlosigkeit, wie der Großvater letztlich zu beurteilen ist. So einfach sei es nicht, wohlfeil ein Urteil zu bilden. Was wohl alle in der Kulturkneipe Frieda eint ist das Gefühl, mit Familiengeschichte und (Nicht-)Aufarbeitung so oder so ähnlich selbst bereits konfrontiert worden zu sein. Denn für die Generationen eins und zwei nach 1945 sind zwölf Jahre in Wahrheit ein „lebenslänglich“.