„Streetart-Coaching“ nennt Annika Kretschmann, die unter ihrem Künstlernamen „Mimmika“ seit April dieses Jahres mittlerweile mehr als 150 Kreidebilder auf den Breckerfelder Asphalt gemalt hat, ihre Kunst: „Es sind einfach farbenfrohe Botschaften, sozusagen ‚Gedankenstolperer‘, die zum Innehalten, Nach- und manchmal auch Umdenken auffordern sollen.“
Die Themen ihrer Bilder seien meist inspiriert durch Ansätze aus der positiven Psychologie: „Ich habe mich Anfang des Jahres auf die Suche nach dem Glück begeben und mich im Rahmen eines Projekts, dass ich derzeit vorbereite, gefragt was Glück bedeutet“, erzählt die studierte Soziologin. Dabei sei ihr aufgefallen, dass der Fokus der meisten Menschen nur noch auf dem Negativen liege: „Kaum einer sagt mehr etwas Freundliches, offen über Gefühle zu sprechen, Mitgefühl zu zeigen, das gilt als zu persönlich. Man will ein perfektes Bild nach außen zeigen, aber gleichzeitig fehlt die Menschlichkeit.“

Alles begann mit einem „Reminder“
Wenn sie die gesellschaftlichen Entwicklungen aus soziologischen Sicht betrachte, habe sie den Eindruck, dass die Menschen nur noch wie in einem Hamsterrad umherlaufen: „Sie schauen nicht mehr nach links und rechts und übersehen dabei so viele wundervolle Momente, werden mental krank. Ich möchte sie mit meinen Zeichnungen ins Hier und Jetzt zurückholen, sie gedanklich zum Stolpern bringen.“
Inspiriert worden sei sie durch eine Kreidekünstlerin aus Regensburg, auf deren Bilder sie zufällig in den Sozialen Medien gestoßen ist. „An einem Samstag im April bin ich dann gemeinsam mit meiner Tochter losgezogen und habe ‚Reminder: Du bist wertvoll‘ auf die Straße gemalt“, erzählt die junge Mutter. Genau in diesem Moment sei ein Spaziergänger mit seinem Hund vorbeigekommen: „Es war, als hätte mein Kreidespruch ihn aus seinem Trott herausgerissen“, erinnert sich Annika Kretschmann an das daraufhin entstandene Gespräch: „Man merkte, wie er gedanklich stolperte, nachdachte, berührt von den Worten war, ins Umdenken kam.“ Er habe ihr ein Lächeln geschenkt und sich am Ende sogar bei ihr bedankt: „So hat eigentlich alles begonnen.“

Bilder schaffen Gespräche
Mittlerweile sind es mehr als 150 Kreidebilder, die Annika Kretschmann gemalt hat – kleine Botschaften, die zwar nur bis zum nächsten Regenschauer sichtbar sind, aber dennoch lange im Gedächtnis bleiben. Weil sie Begegnungen schaffen, Auslöser für Gespräche sind: „Ich habe aus den spontanen, aber dennoch sehr intensiven Gesprächen ganz viel ‚mitgenommen‘, durfte viele unterschiedliche Perspektiven kennenlernen“, sagt sie.
Oft habe sie erlebt, dass immer genau der oder diejenige zufällig vorbeikam, für den oder die das Bild beziehungsweise dessen Botschaft ‚bestimmt‘ war: Als sie beispielsweise an der Glörtalsperre ihr XXL-Bild mit der Botschaft ‚Gefühle müssen raus‘ gemalt habe, kam eine Therapiegruppe der Lüdenscheider Rehakliniken vorbei, Menschen, die dort aufgrund einer mentalen Erkrankung behandelt werden: „Sie waren so dankbar über meine Zeichnung, weil es auch ihnen wichtig sei, dass offen über das Thema mentale Gesundheit geredet werde. Dass es kein Tabu sein dürfe und dadurch anderen Menschen der Mut geschenkt werde, sich Hilfe zu holen.“

Die junge Soziologin scheint selbst ein bisschen verwundert, dass sie mit ihren Zeichnungen offenbar viele Menschen erreicht, mit denen sie vermutlich sonst nicht ins Gespräch gekommen wäre: „Ein siebenjähriger Junge hat mich zum Beispiel angesprochen, ob ich ‚die Kreidekünstlerin‘ sei und sagte, dass er über mein Buchstabentausch-Bild ‚Fehler-Helfer‘ nachgedacht habe und dass das ja total richtig sei: Fehler sind – genau genommen – auch Helfer. Wir hatten anschließend noch ein tiefgründiges Gespräch über das Leben. Das zeigt, wie sehr auch Kinder selbst von den kleinsten Gedankenimpulsen etwas Positives für sich mitnehmen können. Wundervoll, nicht wahr?“, freut sich Annika Kretschmann.

Und sie erzählt weiter, von einer Seniorin, mit der sich auf der Straße über Einsamkeit sprach, von einem Rentner, der sehr berührt gewesen sei, weil sie ihm einen Satz von Aristoteles quasi genau vor seine Füße schrieb: „Ohne zu wissen, dass der Mann genau diesen Satz als Dozent jahrzehntelang als Einstieg in seine Vorlesungen genutzt hat.“
Tief beeindruckt habe sie eine Frau, die auf sie zugekommen sei als sie gerade einen ‚Mental Health Parcours‘ zeichnete: „Sie vertraute mir an, dass sie gerade eine Chemotherapie macht und hat mir so viel Lebensweisheit und gleichzeitig Glück für meinen Weg mitgegeben – das hat mich zutiefst beeindruckt.“

Wertschätzung statt erhobener Zeigefinger
Als Soziologin könne sie sich manchmal allerdings auch nicht verkneifen auf gesellschaftliche Missstände hinzuweisen: „Nicht mit dem erhobenen Zeigefinger, sondern mit Wertschätzung“, wie Annika Kretschmann betont. So malte sie beispielsweise an der Einfahrt zur Feuer- und Rettungswache für die Ehrenamtlichen in großen Lettern „Du bist wichtig!“ auf den Asphalt, um ihnen dafür zu danken, dass sie ihr Leben für ihre Mitmenschen riskieren: „Es ist nämlich eben nicht selbstverständlich, dass jemand für uns da ist wenn es brennt.“ Ebenso schrieb sie am Seniorenzentrum „Pflege ist Liebe und Liebe ist unbezahlbar“, und kurz vor den Sommerferien am Schulzentrum „Du bist wertvoll, egal was da auf deinem Zeugnis steht“, um Kindern zu zeigen, dass Noten nicht alles sind: „Um ihnen Druck zu nehmen und den Mut zu schenken, die Perfektion loszulassen und eben einfach Kind zu sein.“

Gefühle wieder gesellschaftsfähig machen
Dass sie überwiegend positives Feedback für ihre positiven Kreidebotschaften erhalte, freue sie sehr, sagt Annika Kretschmann und schaut dabei – fast ein bisschen verwundert – auf die Kreide in ihrer Hand, mit der sie ihre „Gedankenstolperer“ auf die Straßen Breckerfelds zeichnet, diese bunten Zeichnungen, mit denen sie ihren Mitmenschen Freude schenken und sie zugleich zum Nachdenken anregen möchte. Mit denen sie Menschen dazu animieren will, offen miteinander um- und aufeinander zuzugehen und Gefühle zuzulassen.
„Ich bin so dankbar für die vielen wundervollen Gespräche, die vielen unterschiedlichen Menschen und Perspektiven, die ich durch meine Kreidebilder kennenlernen durfte“, sagt die Frau, die ihre Botschaften mit ‚Mimmika‘ unterschreibt. Botschaften, aus denen Begegnungen wurden – und die ohne ein kleines Stückchen bunter Kreide wohl nie zustande gekommen wären.